Sammelrezension: P. den Boer u.a. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte

Cover
Titel
Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses.


Herausgeber
den Boer, Pim; Duchhardt, Heinz; Kreis, Georg; Schmale, Wolfgang
Erschienen
nchen 2011: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Seit Pierre Noras sein monumentales Werk Lieux de mémoire in den 1980er Jahren angegangen ist, sind Erinnerungsorte in aller Munde und stossen auf ein reges Publikums- und Forschungsinteresse. Die Lieux de mémoire rückten an die Stelle der eingebrochenen nationalen Meisternarrative plurikultureller Gesellschaften. Sie stehen für eine gemeinsame Vergangenheit, ergeben aber in ihrer Vielfalt kein verbindliches Gesamtbild der Erinnerung, wie dies einer nationalen Meistererzählung eigen ist. Ihre Pluralisierung lässt auch keine Hierarchisierung und keine Anordnung zu einer kohärenten Erzählung mehr zu. Kennzeichen der Konzeption der Lieux de mémoire ist denn auch eine Anordnung von Gedächtnisinhalten, die keiner chronologischen Abfolge mehr gehorcht. Dabei lassen sich einzelne Erinnerungsorte netzartig miteinander verbinden.

Im vorliegenden dreibändigen Werk gehen Historikerinnen und Historiker der Frage nach europäischen Erinnerungsorten nach. Erinnerungsforschung, so eine Erkenntnis aus dem vorliegenden Werk, zeigt sich als Phänomen, dessen Dauer und Lebendigkeit nicht absehbar sei und das durch Erkenntnisse über das Selektieren des Erinnerns aus den Naturwissenschaften und der Medizin sowie als historisches Forschungsfeld, das auf Identitätsbildung und Mentalitätswandlungen zielt, weiter Auftrieb erhält. Nachdem auf der Ebene von Regionen und Nationen der Frage nach Erinnerungsorten nachgegangen worden ist, stellte sie sich auch für die europäische Ebene.

Nora war noch einer Identitätsgeschichte verpflichtet mit dem Ziel der Bewahrung des französischen Gedächtnisses. Das für Deutschland entwickelte Konzept von Etienne François und Hagen Schulze zeigte sich hingegen offener, indem es die Überlieferung der Erinnerung als neue Perspektive auf die Vergangenheit nutzt. Insbesondere im europäischen Kontext stellen sich Fragen nach Gemeinsamkeiten und symbolischen Orten. Wenn es, wie viele Historiker meinen, keine europäische Geschichte gibt, so teilen die Menschen in Europa über den Rahmen nationaler Grenzen hinaus gemeinsame Erinnerungen. Die Herausgeber der Bände halten in der Einleitung fest, dass durchaus so etwas wie Gedächtnisorte mit europäischer Relevanz existieren würden, als symbolische Orte, die für den ganzen Kontinent oder doch grosse Teile von ihm von Belang sind.

Bei der Fruchtbarmachung des Nora’schen Grundgedankens bewegte man sich auf «dünnem Eis», wie die Herausgeber ausführen. Ist es ein Unternehmen, um die von Brüssel so oft beklagte unzureichende Identifizierung der in Europa lebenden Menschen mit der EU zu beheben? Davon nehmen die Herausgeber Abstand, indem sie betonen, dass sie keine finanzielle Unterstützung für das Projekt aus einem europäischen Rahmenprogramm erhalten haben. Ihr «Credo» gilt der wissenschaftlichen Erschliessung. Am Beginn des Vorhabens stand die Frage der Definition von Erinnerungsorten, wobei rasch klar wurde, dass für den europäischen Rahmen ein eigener Zugang gefunden werden musste. Erinnerungsorte müssen, um als europäisch eingestuft zu werden, schon zur Zeit ihrer Genese im Bewusstsein der Zeitgenossen eine europäische Dimension aufweisen; weiter sollen sie auch europäisch vermittelt worden sein und sie sollen nicht nur für die westliche Hälfte des Kontinents, sondern auch für den östlichen Teil von Belang sein. Aus solchen Vorüberlegungen wird klar, dass europäische Erinnerungsorte nur als Konstrukte vorstellbar sind, «die einen breiten rezeptionsgeschichtlichen Ansatz mit dem verbinden, was das Wesen dieses Konstrukts ausmacht: ein Punkt im Ablauf der Geschichte, an dem sich positiv oder negativ besetzte Erinnerungen breiterer, nicht nur elitärer Schichten kristallin verfestigt und eine Idee von etwas Gemeinsamem – einem gemeinsamen Erbe – entstehen lässt.» (10)

Entstanden ist aus dieser Konzeption ein dreibändiges Werk mit rund 140 Essays. Der erste Band befasst sich mit Mythen und Grundbegriffen des europäischen Selbstverständnisses. Betrachtet werden darin jene Kräfte, welche in den Augen der Politiker die Gestalt Europas ausmachen. Es handelt sich um die «grossen geistigen Kräfte», wie das Christentum (Nikolaus Lobkowicz), Judentum (Moshe Zimmermann) und den Islam (Stephan Conermann), «Bewegungen europäischen Charakters », wie den Humanismus (Markus Völkel) und die Aufklärung (Jean Mondot) sowie die «Grundfreiheiten» und «Kriegserfahrungen » mit der damit verbundenen Friedenssehnsucht.

Der zweite und voluminöseste Band dupliziert den ersten in seiner Gliederung und beinhaltet die ausgewählten Fallbeispiele europäischer Erinnerungsorte. Hier mussten die Herausgeber Entscheidungen treffen, da das Gesamtspektrum aller Konstrukte europäischer Erinnerungsorte ohnehin nicht zu erfassen ist. Interessant wäre zu erfahren, nach welchen genaueren Kriterien ausgewählt worden ist. Die Herausgeber halten sich mit theoretischen Bezügen über Erinnerungsorte im Allgemeinen und bezüglich Europa im Spezifischen zurück. Hingegen finden sich in den einzelnen Beiträgen verschiedene Hinweise zur Form und Funktion von Erinnerungsorten. Insbesondere im ersten Band werden grundlegende Fragen angestossen, wie etwa jene nach der «Europäisierung ohne europäische Identitätspolitik» (Pim den Boer, 73) oder nach einem gemeinsamen Geschichtsbild als Bedingung für die europäische Identität (Miroslav Hroch, 78). Wolfgang Schmale führt aus, dass je länger die Geschichte der Europäischen Integration andauere, desto mehr scheine sie sich zu einer Mythenbildung zu eignen (19). Die grosse Zahl an Fallbeispielen im zweiten Band gliedert sich analog dem ersten in einen Bereich der «Mythen». Hier finden sich Beispiele zum «Stier» (Michael Wintle) oder «Herkules» (Joachim Berger) aber auch die auf einer anderen Ebene anzusiedelnden Erinnerungsorte, wie der «Internationale Karlspreis zu Aachen» (Georg Paul Hefty) oder die «Römischen Verträge von 1957» (Franz Knipping). Eine lange Liste von Erinnerungsorten findet sich unter dem Aspekt des «Gemeinsamen Erbes». Hier schreiben Volker Reinhardt über «Michelangelo», Martin Kintzinger über die «Universität» oder Gunther Hirschfelder über «Pizza und Pizzeria ». Allein diese kurze Aufzählung veranschaulicht die Breite der gewählten Zugänge. Es folgen Fallbeispiele zu den «Grundfreiheiten», darunter die «Magna Charta» (Hanna Vollrath) oder «Anne Frank» (Frank van Vree). Unter dem «Raum Europa» fragt Georg Kreis, ob die Alpen ein europäischer Erinnerungsort sind. Eine grössere Zahl von Erinnerungsorten findet sich unter «Kriegserfahrung und Friedenssehnsucht». So finden sich hier die «Völkerschlacht von Leipzig» (Katrin Keller), «Auschwitz» (Wolfgang Benz) aber auch die «Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (Helmut Altrichter). Unter «Wirtschaftund Verkehrsraum Europa» findet sich die «europäische Stadt» (Roman Czaja) und auch der «Euro» (Wilhelm Schönfelder). «Metaphern, Zitate, Schlagworte» bilden eine letzte Oberbegriffsgruppe und darunter finden sich die Beispiele «Liberté – Egalité – Fraternité» (Gudrun Gersmann), «Balkan» (Maria Todorova) aber auch «Konzert der Mächte» (Heinz Duchhardt). In der kurzen Einleitung finden sich auch Hinweise zu Erinnerungsorten, die nicht aufgeführt werden konnten.

Den Abschluss des Werks bildet ein dritter Band, der dem Themenkreis «Europa und die Welt» gewidmet ist und sich im Sinne neuer wissenschaftlicher Theorien mit den «entanglements» befasst. Unter «Grundbegriffen» werden «Globalisierung » (Andreas Eckert) oder auch «Expansion » (Wolfgang Reinhard) erwähnt; als «Konzepte» werden zum Beispiel «Rassismus » (Christian Geulen) und «Postkolonialismus » (Francesca Falk) vorgestellt. Daran fügen sich in einem dritten Paket Fallstudien mit unterschiedlichen Bezügen, so zu den Columbus Gendenkjahren 1892 und 1992 (Titus Heydenreich und Horst Pietschmann), über «das Kolleg San Gregorio in Valladolid» (Mariano Delgado), zu «Max Weber und Japan» (Edith Hanke) oder über «den Völkerbund – Erinnerung an ein globales Europa» (Madeleine Herren).

Wie die Herausgeber vermerken, ging es ihnen nicht darum, einen verbindlichen Kanon zu entwerfen. Ein solches Vorhaben wäre zum Scheitern verurteilt gewesen. Auch präsentiert sich das Projekt des Erfassens europäischer Erinnungsorte als offen, gelte es doch über weitere Lemmata nachzudenken, die sich als europäische Erinnerungsorte eignen könnten. Wir haben es hier mit einem Prozess zu tun, bei dem die Konturen sichtbar werden, wie Europa erinnert und erzählt werden kann. Das vorliegende Werk stellt hierzu einen wichtigen Meilenstein dar.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Pim den Boer/Heinz Duchhardt/Georg Kreis/Wolfgang Schmale (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde, München, Oldenbourg Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 491-493.